Dieser Artikel ist im original HMV Clubheft 20 abgedruckt worden - erschienen im November 2016. Aufgrund der unglaublich starken positiven Resonanz auf diesen Artikel und mehrerer Anfragen hat sich der HMV nun entschieden, dass dieser Artikel auch hier veröffentlicht werden sollte und nicht nur den Clubmitgliedern vorbehalten bleibt:
Entwicklung der Qualität von Modellbogen
Modellbogen gibt es nun seit einigen Jahrhunderten und in dieser Zeit hat sich sowohl die Art der Modellbogen als auch die Qualität immer wieder deutlich verändert. Die Einführung von Industriepapieren und Massendruckverfahren war sicher der erste richtig große Entwicklungsschub für den Modellbau aus Karton. Denn erst seit diesem Zeitpunkt wurden Modellbogen für ein breites Publikum zugänglich bzw. erschwinglich. In diese Zeit fällt auch der Aufschwung der frühen bekannten Verlage. Hierzu gehören insbesondere Schreiber und Imagerie d’Epinal. Die stetige Veränderung und Weiterentwicklung von Papieren, Druckverfahren und in der Druckvorstufe sind natürlich auch an der Entwicklung von Modellbogen nicht vorbeigegangen. Mit den zusätzlichen Möglichkeiten entwickelte sich der Kartonmodellbau von den vergleichsweise einfachen Modellierbogen zu den teilweise äußerst komplexen Modellbogen, wie sie dann in den 50er, 60er und 70er Jahren entstanden.
Bis Anfang der 90er Jahre war aber die Erstellung eines Modellbogens eine manuelle Arbeit am Zeichentisch. Das eigentliche Modell wurde häufig als Reinzeichnung auf einem Folienbogen erstellt. Die Farbgebung wurde bei den eher technischen Modellen meist im Vollfarbdruck gemacht und die Farbzuweisung wurde mittels Folienbogen ebenfalls manuell erstellt. Eine ruhige Hand und ein scharfes Messer waren dazu notwendig. Es liegt auf der Hand, dass Korrekturen im Modell in der Reinzeichnung nicht mehr so einfach durchzuführen waren. Ebenso waren die Farbzuweisungen nicht absolut exakt möglich, was ein Blick durch den Fadenzähler auf ein Modell aus dieser Zeit auch sofort verdeutlicht.
„Die 90er Jahre haben den Bereich der Druckvorstufe schlichtweg revolutioniert...“
Dann hielt digitale Technologie Einzug zunächst in die Druckvorstufe und dann auch immer mehr in den Druck selbst. Die 90er Jahre haben den Bereich der Druckvorstufe schlichtweg revolutioniert und auf den Kopf gestellt. Viele teure Geräte wurden beinahe über Nacht obsolet und ganze Berufszweige starben innerhalb kürzester Zeit aus oder wurden ersetzt. Reprokameras bespielsweise kommen heute kaum noch zum Einsatz. Und auch eine manuelle Bogenmontage findet man nur noch im absoluten Ausnahmefall. In genau dieser Zeit großer Veränderung habe ich meine Berufslaufbahn im Druck- und Verlagsgewerbe begonnen. Und dafür bin ich heute überaus dankbar, denn ich hatte die einmalige Chance, von vorneherein zwei verschiedene Verfahrenswege zu erlernen – nämlich den manuellen und den digitalen. Das Wissen um den klassischen, manuellen Weg erleichtert mir nach wie vor und immer wieder das Verständnis für Problematiken, die bei der Entwicklung der HMV Modelle auftauchen können.
Die digitalen Möglichkeiten haben den Kartonmodellbau vermutlich mehr als beinahe alle anderen Bereiche der Druckindustrie verändert. Die Modelle wurden immer detaillierter, präziser und umfangreicher. Gleichzeitig nahm durch die geringere Einstiegshürde in den Verlagsbereich das Angebot an Modellen ungemein zu und wir haben heute ein Angebot an Modellbogen auf dem Markt, das es in dieser Breite noch nie zuvor gab.
„Der Anspruch an einen Modellbogen ist heute deutlich höher als vor 25 Jahren.“
Verständlicherweise hat sich parallel zu dieser Entwicklung der Möglichkeiten auch der Anspruch von uns Modellbauern verändert. Besser wäre es eigentlich zu sagen, die „Ansprüche“ haben sich verändert. Denn nicht nur das Angebot der Modellbogen hat sich diversifiziert, auch die verschiedenen Vorlieben von Modellbauern sind heute vielfältiger und ausgeprägter. Geht es dem einen hauptsächlich um die Passqualität, ist für den nächsten schon die Bauanleitung das wichtigste Kriterium. Für manch einen steht die Präzision im Vordergrund, für den nächsten aber vielleicht die künstlerische Ausgestaltung der Kolorierung. Eine Liste der Präferenzen ließe sich eine Weile fortführen. Und schon hier zeigt sich, dass der Begriff „Qualität“ für Modellbogen gar nicht so einfach zu definieren ist. Eines läßt sich jedoch mit Sicherheit sagen: Der Anspruch an einen Modellbogen ist heute deutlich höher als vor 25 Jahren. Ich erinnere mich noch sehr gut an ein Modell eines polnischen Verlags, das wir damals in großer Stückzahl verkauft hatten. Nie gab es eine Beschwerde, jeder fand das Modell gut. Durch Zufall erfuhr ich von einem Kunden, dass das Deck 2 cm (zwei Zentimeter!) zu kurz war. Wir fragten daraufhin einige Kunden, die das Modell gekauft hatten, ob es da Probleme gab. Die Antworten reichten von: „Ja, da war ein bisschen was dran zu korrigieren“ bis hin zu „Nee – ging prima, keine Probleme“. Auf die Nachfrage, ob das Deck nicht zu kurz war, erhielt ich dann die Antwort: „Ja, war so, aber das kann man ja als Modellbauer leicht in Ordnung bringen“. Heute wäre ein solches Modell nicht mehr verkäuflich und die Resonanz bei den Modellbauern wäre sicher eine ganz andere. Und das ist gut so. Denn durch den gestiegenen Anspruch haben sich Verlage und Konstrukteure auch weiterentwickelt. Und wer sich nicht entsprechend weiterentwickelt hat, merkt das über kurz oder lang deutlich an den Absätzen seiner Modelle.
„Die Anonymität des Internet hat die Kultur des Miteinander, des Kritikübens und der Kommunikation insgesamt nachhaltig verändert.“
Nun gab es mit dem Einzug digitaler Technologie auch noch andere Neuerungen und Veränderungen. Insbesondere der Ausbau des Internets und die Zugänglichkeit für beinahe jeden Nutzer und die dann folgende Entwicklung sozialer Netzwerke, Foren usw. hat die Kultur des Gedankenaustauschs und auch der Kritik verändert. Das, was man früher vielleicht direkt an den Verlag im persönlichen Gespräch auf der Messe weitergegeben hat, steht heute plötzlich im Internet. Wenn es gut läuft. Häufig genug stehen dort allerdings Dinge, die in einem persönlichen Gespräch so nicht gesagt würden. Die Anonymität des Internet hat die Kultur des Miteinander, des Kritikübens und der Kommunikation insgesamt nachhaltig verändert. Diese Veränderung geht so weit, dass die Thematik inzwischen großflächig in Studien untersucht wird, Gesetze erlassen werden und man verzweifelt versucht, eine neue Kultur zu finden, die weniger agressiv und herabwürdigend ist. Abgesehen von den zahllosen menschlichen Entgleisungen, um die es bei dieser Sache geht, läßt sich vor allem konstatieren, dass die Sachlichkeit und Verhältnismäßigkeit weitgehend auf der Strecke geblieben ist. Und auch diese Entwicklung ist am Kartonmodellbau nicht spurlos vorübergegangen. Da wird plötzlich ein Modell hochgelobt, was noch gar nicht auf dem Markt ist, geschweige denn gebaut wurde. Ein anderes wird verrissen, ohne dass der Autor es jeh gesehen hätte. Die Erstlingsarbeit eines Nachwuchskonstrukteurs wird exessiv verherrlicht, was sicher gut für die Motivation, jedoch nicht unbedingt sinnvoll für die Selbstreflektion des Konstrukteurs ist. Der Bogen eines anderen Konstrukteurs, der schon lange in der Branche ist, wird aufgrund persönlicher Befindlichkeiten schlecht geredet oder gar völlig zerlegt. Tatsächlich kann heute eine Toleranz im Bereich von 0,1 oder 0,2 Milimetern Anlaß zu wilden Beschimpfungen und heftigsten Auseinandersetzungen geben. Ich messe dann mit der Schieblehre die Breite der Rückseite meines recht feinen Skalpells nach und schüttele den Kopf und frage mich, was das noch mit Modellbau zu tun hat. Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Absurdität der Kritikpunkte mit der Qualität des Modells zunimmt. Die Hauptsache ist, dass kritisiert wurde. Was auch immer. Kurz gesagt: Es gibt heute eine neue Kultur der Kritik, die mit dem, was man landläufig als „konstruktive Kritik“ bezeichnet, nichts oder fast nichts mehr gemein hat.
„Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass ein Großteil der Kritikpunkte, die wir in Foren oder Gruppen in sozialen Netzwerken finden, nicht unbdingt mit dem Modell, sondern anderen Faktoren zu tun haben “
Die Konsequenzen auf Seiten der Verleger und Konstrukteure sind erheblich. Waren früher die Kommunikationswege mit den Kunden relativ klar umrissen (Post und Telefon), so sind es heute Email oder Facebook, was grundsätzlich mit dem klassischen Brief vergleichbar ist, auch wenn bereits durch Studien belegt wurde, dass die Bereitschaft zur verbalen Entgleisung bei Emails erheblich höher ist als beim klassischen Brief. Hinzu kommen aber Kommunikationswege, die weniger direkt sind. Foren und Gruppen in sozialen Netzwerken beispielsweise. Der Austausch ist dort so rege, dass es kaum möglich ist, auch nur einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben. Unsere eigenen Beobachtungen zeigen, dass die Aussagekraft einer Kritik mit der Unpersönlichkeit des Mediums dramatisch abnimmt. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass ein Großteil der Kritikpunkte, die wir in Foren oder Gruppen in sozialen Netzwerken finden, nicht unbedingt mit dem Modell, sondern mit ganz anderen Faktoren zu tun haben.
Für den Verlag bedeutet das, dass es sich als immer schwieriger gestaltet, fundierte Kritik von weniger oder gar nicht fundierten spontanen Meinungsäußerungen zu differenzieren. Tatsächlich geht es in die Richtung, dass man sich mit externer Kritik eigentlich nicht mehr auseinandersetzen kann, da die Überprüfung, ob überhaupt etwas an der Behauptung dran ist, so zeitaufwändig geworden ist, dass ein erneuter Kontrollbau bei einer Nachauflage sinnvoller erscheint. Das ist eine bedauerliche Entwicklung, da sie eines der wichtigen Elemente im Kartonmodellbau zunächst einmal mehr oder weniger aushebelt. Nämlich das Zusammenwirken von Kunden und Verlegern. Denn bei aller Professionalität ist es auch heute kaum möglich, einen Verlag wie z. B. den HMV ohne die Unterstützung seitens der Modellbauer zu führen.
Andererseits eröffnen heutige Kommunikationswege jedoch auch ganz andere, direkte Möglichkeiten. Und tatsächlich in dem Moment, wo sich die Kommunikation zwar im Internet, aber im persönlichen Kontakt abspielt, verändert sich die Situation grundlegend. Hier erfahren wir einen zunehmenden, regen und fast ausnahmslos sehr freundlichen Austausch mit HMV Kunden aus aller Welt. Das gilt insbesondere für Social Media, Email und Kontaktanfragen. Das Feedback zu HMV Modellen, aber auch unserem Service und dem Handelssortiment von fentens Kartonmodellbau hilft uns enorm, Verbesserungspotentiale zu erkennen und uns weiter zu entwickeln. Und das soll natürlich auch so bleiben.
„Was hat das eigentlich mit Modellbau zu tun? “
Bei der kritischen Betrachtung der neuen „Kritik-Kultur“, die ich oben beschrieben habe, beschäftigt mich persönlich allerdings auch noch eine ganz andere Frage in mindestens gleichem Maße: Was hat das eigentlich mit Modellbau zu tun? Mein erstes Kartonmodell liegt nun schon mehr als 40 Jahre zurück und seitdem habe ich selbst doch einiges gebaut und wirklich sehr viele Modellbauer aus allen Sparten kennengelernt. Und etwas, was in meinen Augen einen echten Modellbauer auszeichnet, ist das Abstraktionsvermögen, die eigene schöpferische Leistung und die handwerkliche Geschicklichkeit besonders dann, wenn es mal nicht so passt, wie es eigentlich soll. Im Plastikmodellbau bedeutet das, dass gespachtelt und geschliffen wird, im Holzmodellbau wird ohnehin aus Grundmaterialien unter Einsatz von Werkzeug erst einmal eine Form geschaffen. Und auch beim Kartonmodellbau hatte ich bislang immer den Eindruck, dass das Ergebnis stark davon abhängt, was der Modellbauer daraus macht. Aus meiner Sicht, ist das auch nach wie vor die Definition eines Modellbauers.
Aber es gibt natürlich auch andere Hobbies, die ohne dieses Abstraktionsvermögen auskommen und wo dennoch ein schönes Ergebnis entsteht. Ich denke da an die diversen 3D-Puzzle oder an Malen nach Zahlen. Auch die Kits aus Plastik-Bausteinen eines bekannten Spielzeugherstellers sind ein gutes Beispiel dafür. Bei diesen Bereichen steht das Zusammensetzen nach einem Schema bzw. einer Bauaunleitung im Vordergrund, schöpferische Leistung und kreative Lösungsansätze sind nicht unbedingt gefragt. Und damit möchte ich diese Hobbies nicht abwerten, sondern lediglich differenzieren.
„... der Anspruch, der an einen Baukasten aus Plastikbausteinen gestellt wird, heute auf den Kartonmodellbau übertragen wird. “
Wenn ich nun an einige der Diskussionen der letzten Monate bzw. Jahre zurückdenke, die ich sowohl persönlich erleben durfte als auch in verschiedenen Foren im deutschsprachigen Raum lesen konnte, dann frage ich mich, ob nicht möglicherweise hier eine Anspruchsverschiebung stattfindet. Ob nicht möglicherweise der Anspruch, der an einen Baukasten aus Plastikbausteinen gestellt wird, heute auf den Kartonmodellbau übertragen wird. Und tatsächlich geht das nicht. Rein technisch ist es nicht möglich, Kartonmodelle in der Detailliertheit des HMV auf Zehntelmillimeter exakt zu konstruieren. Papier ist ein Naturmaterial und verändert sich im Maß bei einer Luftfeuchtigkeitsveränderung um 10% möglicherweise bereits um mehr als 0,1 mm. Hinzu kommt, dass Modelle, die so komplex sind und gleichzeitig in so einer kleinen Auflage gefertig werden, wie das bei Kartonmodellen der Fall ist, nicht den gleichen Prüfverfahren unterzogen werden können wie das zum Beispiel bei der Entwicklung eines neuen Fahrzeugs der Fall ist. Dort stehen Millionenbeträge für ausgiebige Tests zur Verfügung (Rückrufe gibt es dennoch immer wieder, weil auch noch so viele Tests nicht unbedingt jeden Fehler ausschließen können). Im Kartonmodellbau arbeiten wir hier mit „ehrenamtlichen“ Kontrollbauern, die das in Ihrer Freizeit machen.
„...für mich wird Kartonmodellbau immer Modellbau bleiben... “
Kartonmodellbau darf, soll und muss sich weiterentwickeln. Und es gibt noch viele, interessante Wege, die mit den vielen Modellen, die bislang auf den Markt gekommen sind, nicht oder nur ansatzweise beschritten wurden. Es ist noch sehr viel Luft für Entwicklung und Verbesserung vorhanden. Alleine hier auf meinem Tisch liegen einige interessante Ideen und Neuerungen. Aber für mich wird Kartonmodellbau immer Modellbau bleiben und ich sehe auch weiterhin besonderen Herausforderungen bei Modellen mit Spannung entgegen und freue mich dann über die kreative Lösung, die ich gefunden habe. Und dabei spielt es keine Rolle, ob ich beim Schließen der Burgmauer feststelle, dass ein Zentimeter fehlt, ob ein Bauteil spiegelverkehrt gedruckt wurde, oder ob gar ein Spant 0,1 mm zu hoch oder niedrig ist.